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Gesellschaftlicher Wandel als Voraussetzung für den

Germana


Gesellschaftlicher Wandel als Voraussetzung für den

Wandel im Medienangebot

Angebote aus dem Entertainment- und dem Kulturbereich müssen dem Geschmack des



Publikums entgegenkommen, wenn sie nicht untergehen wollen. Seit dem Übergang zum

dualen Rundfunksystem und der daraus folgenden zunehmenden Wichtigkeit der

ökonomischen Aspekte entscheiden die Vorlieben des Publikums mehr denn je über Leben

und Tod eines Sendeformats. Die Vorzüge des Publikums ändern sich aber ständig. Was

gestern noch der letzte Schrei war, ist heute bereits Schnee von gestern. Sendegefässe,

welche die Grosseltern begeisterten, ernten bei deren Enkeln kaum noch ein müdes

Lächeln. Es ist noch nicht ganz soweit, dass sich der Zeitgeist im Minutenrhythmus ändert,

aber dennoch kann ein sechzig jähriger Vater seinem zwanzig jährigen Sohn allerhand

über die gänzlich anderen Sitten und Lebensgewohnheiten in seiner Jugend erzählen (vgl.

Gmür 2002: 71). Jede Generation hat ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Inhalte, und

nirgendwo ist der Zeitgeist besser ablesbar als in künstlerischen und kulturellen

Ausdrucksformen, inklusive der Inhalte in den Medien, von denen die Menschen geprägt

werden. Der Kulturwissenschaftler Peter Barry, einer der angesehensten englischen

Kulturtheoretiker, ist der Ansicht, dass sich die aktuellen Entwicklungen in der Kultur- und

Medienlandschaft nicht verstehen lassen, ohne einen Blick auf die Veränderungen im

Übergang von der Moderne zur Postmoderne zu werfen (vgl. Barry 2002: 81).

Die nachfolgenden Seiten wollen diesem Umstand Rechung tragen und sich mit der Frage

befassen, weshalb gerade "Reality"-Formate in unserer Zeit so enormen Erfolg haben;

allerdings ohne den Anspruch zu erheben, die Frage abschliessend beantworten zu können.

Wenn sich jedoch jede Generation ihre eigenen Helden und Idole aussucht und ihre

eigenen Lieblingssendungen kürt, dann sollte man Rückschlüsse über die Befindlichkeit

der Gesellschaft ziehen können, und daraus wieder Schlussfolgerungen über mögliche

Entwicklungen, die Eingang in den Kreislauf von Medienangebot und Mediennachfrage

finden könnten. Es ist grundsätzlich nicht einleuchtend, weshalb sich so viele Menschen

dazu entschliessen, ihre immer knapper werdende Aufmerksamkeit einer Sendung wie

"Big Brother" zu widmen, in der durch und durch durchschnittliche

Durchschnittsmenschen ihren noch durchschnittlicheren Alltag vor laufender Kamera

inszenieren. Es ist ebenfalls nicht grundsätzlich e 848o1418i inleuchtend, weshalb freie Menschen

Schlange stehen, um sich in einem kargen Container zusammen mit lauter Fremden

pausenloser Überwachung auszusetzen. Was sagt es über die Entwicklung der Gesellschaft

aus, wenn die aktuelle Generation von jungen und nicht mehr ganz so jungen Menschen

die permanente Kontrolle durch den alles sehenden "Big Brother" nicht mehr als

Bedrohung betrachtet wie die Generationen vorher, die George Orwells Albtraumversion

"1984" beängstigend und in hohem Masse Furcht einflössend fanden? Es ist kaum

denkbar, dass die von Überwachungsangst geplagte Nachkriegsgeneration den Gedanken

an "Big Brother" kultig gefunden hätte und die Sendung zu einem Renner geworden wäre,

wie der gemütliche "Kessel Buntes", der in den 50er Jahren die Massen begeisterte, und

der heute bei den Teenies höchstens noch unfreiwillige Lachanfälle und breites

Unverständnis auslösen würde. Wie kann es sein, dass eine Gesellschaft wie die unsere,

die so gut ausgebildet ist und über so viel Wissen verfügt wie keine Gesellschaft vor ihr,

ausgerechnet Daniel Küblböck oder Zlatko aus der ersten "Big Brother"- Staffel zum

(vorübergehenden) Vorbild und Star machen? Die Generation unserer Väter hatte Marlon

Brando oder Frank Sinatra. Gibt es solche Kaliber heute einfach nicht mehr, oder sind sie

schlicht und einfach nicht mehr gefragt?

Um möglichen Antworten auf Fragen wie diesen auf die Spur zu kommen, lohnt sich ein

kurzer Blick zurück auf die Entwicklungen und das sich verändernde Kulturverständnis

von der Spätmoderne bis zur Gegenwart.

3.1 Von der Moderne zur Postmoderne

3.1.1 Begrifflichkeiten

Die Begriffe Moderne, Spätmoderne und Postmoderne lassen sich wie alle Begriffe, die

eine Entwicklung beschreiben, nicht haarscharf definieren. Für die uns beschäftigende

Fragestellung scheint es ausreichend, wenn wir die Moderne in Anlehnung an Jürgen

Habermas und seinen 1980 entstandenen Aufsatz "Die Moderne - ein unvollendetes

Projekt" mit dem Erbe der Aufklärung identifizieren und uns darauf einigen, dass die

Spätmoderne mit dem kritischen Hinterfragen der Inhalte und Errungenschaften der

Moderne und der Entstehung und Entwicklung der modernen Literatur und Kunst an der

Schwelle des 19. zum 20. Jahrhunderts beginnt (vgl. Zima 2001: 23f.).

Als "postmodern" bezeichnen wir die Zeitepoche ab etwa 1950 und ihre auch gegenüber

der Spätmoderne kritischen Ansichten. Als einer der Hauptunterschiede zwischen der

Spätmoderne und der Postmoderne lässt sich die grundsätzliche Ablehnung des

Logozentrismus in der Postmoderne anführen.

3.1.2 Das Wertesystem im Wanken

Die Zuversicht der Moderne, Täuschung, Irrationalität und Unordnung bändigen zu

können und ihr Glaube, die Wirklichkeit trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse

beherrschbar machen zu können, erweist sich für die Spätmoderne als illusorisch (vgl.

Zima 2001: 42). Nicht zuletzt durch die Schrecken des ersten Weltkrieges verloren sicher

scheinende Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Gut und Böse ihre absolute Bedeutung.

Der technische Fortschritt hatte in blanke Barbarei gemündet und breite Verunsicherung

entstehen lassen. Nietzsche hatte das spätere postmoderne Denken vorweggenommen,

indem er bereits 1885 verkündet hatte, dass "die Erfindung vom reinen Geiste und vom

Guten an sich", das als Leitmotiv für praktisch sämtliche Dogmatiker seit Plato gegolten

hatte, "der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrtümer" [sei/R.F] (Nietzsche

2002: 12), und indem er einfach einmal die Frage in den Raum gestellt hatte: "Weshalb

Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?" (Nietzsche 2002: 15)

Viele Fernsehmacher scheinen sich analog die Frage zu stellen: Weshalb Qualität und

Handwerk: warum nicht lieber Schund und Dilettantismus, wenn es den gleichen Effekt

billiger erzielt?

3.1.3 Unsinn statt Sinn

Noch vor den Fernsehmachern nahmen die Dadaisten Nietzsches Gedanken auf: Wenn die

Werte des spiessigen Bürgertums, wenn Fortschritt und Erziehung in den schlimmsten

Krieg geführt hatten, dann war es vielleicht an der Zeit, anstelle des viel gerühmten Sinns

den bis dato verteufelten Unsinn zur Maxime zu erheben und dementsprechend statt Kunst

Antikunst zu fabrizieren.

Das Wertesystem hatte einen nicht mehr wieder gut zu machenden Riss in die seit der

Aufklärung gepflegte Fassade erhalten, und die Moderne litt darunter.

3.1.4 Dekonstruktion, Indifferenz und Relativismus

Die Postmoderne ging im Anschluss an die Dadaisten, die als avantgardistisches

Mittelstück gesehen werden können, einen Schritt weiter: Anstatt unter dem Wertezerfall

zu leiden und sich die Zeit der fixen Werte und Bedeutungen zurück zu sehnen, drehte sie

den Spiess um und feierte das Fehlen politischer, moralischer und ästhetischer

Gewissheiten. Die Postmoderne zelebrierte ab Mitte des letzten Jahrhunderts im Anschluss

an die Avantgarde die Indifferenz und begann, Begriffe wie den des Sinns und der Qualität

mit viel Spielfreude zu dekonstruieren, indem sie die bis anhin bestehenden Grenzen

zwischen Kitsch und Kunst, Massenkultur und elitärer Kunstauffassung bewusst

verwischte. Die Postmoderne setzte Nietzsches Denken der Ambivalenz und seine

Umwertung aller Werte um, und die postmodernen Köpfe bejahten seine Fragen danach,

ob "Gut vielleicht Böse und alles vielleicht im letzten Grunde falsch sei" (Nietzsche 1980:

Analog dazu könnten die Fernsehmacher, wieder in Anlehnung an Nietzsche

argumentieren, dass die Frage nach der Unterscheidung von hoher und niedriger Qualität,

von Können und Dilettantismus gar nicht mehr gestellt werden dürfe, weil letztlich doch

alles irgendwie dasselbe sei.

Was von der Sicherheit der Moderne übrig blieb, war ein grenzenloser Relativismus, der

jeglichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hinfällig machte (vgl. Zima 2001: 263). Die

Zeit der binären Gegensatzpaare war ein für alle Mal vorüber.

3.2 Der Wandel der Wahrnehmung

3.2.1 Räumliche Nähe bei räumlicher Ferne

Nicht nur die Bedeutungen des moralisch-ethischen Wertesystems haben ihre Bedeutung

verloren: Auch Elementarbegriffe wie Raum und Zeit haben angesichts technischer

Errungenschaften wie der ersten Telegrafenleitung, des Flugzeugs, des Fernsehens bis hin

zum Internet ihre fixen Bedeutungen eingebüsst (vgl. Gmür 2002: 11): "Alles wird uns

gleich nah und gleichzeitig" (Gmür 2002: 11/Hervorheb. i. O.). Wir können Roger

Federers Sieg in Wimbledon hunderte von Kilometern entfernt echtzeitlich und sogar in

besserer Sehschärfe miterleben, als wenn wir direkt vor Ort im Nieselregen auf der

Tribune sässen.

Meyrowitz (vgl. Meyrovitz 1987: 46) spricht von der aufgehobenen traditionellen

Verknüpfung zwischen physischem Ort und sozialer Situation, an die bislang jede

Beglaubigung von Realität und Augenzeugenschaft gebunden war. Die Folge davon ist

"ein Effekt von räumlicher Nähe bei räumlicher Ferne" (Grossklaus 1995: 130). Nahraum

und Fremdraum und die damit verbundenen Gefühle von Vertrautheit und Fremdheit

durchmischen sich.

Dieses Zusammenrücken von Nah und Fern bringt eine Entmystifikation des Fremden und

des Eigenen mit sich. Der Distanzverlust nimmt dem Fremden den letzten auratischen

Schein, wie er dem Unerreichbaren und vor allem dem Einzigartigen anhaftet (vgl. Gmür

3.2.2 Der Verlust der Aura

Walter Benjamin hatte in seinem viel beachteten Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter

seine technischen Reproduzierbarkeit" bereits 1936 auf die geschichtlichen, sozialen und

ästhetischen Prozesse hingewiesen, die mit der technischen Reproduzierbarkeit

einhergehen, und er kam zum Schluss, dass im Zeitalter dieser Reproduzierbarkeit die

Aura verkümmere. Er schrieb, dass es ein leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen

Massen sei, sich Dinge räumlich und menschlich näher zu bringen, genauso wie es ihre

Tendenz einer Überwindung des Einmaligen durch die Aufnahme von deren Reproduktion

sei (vgl. Benjamin 1963: 15).

Die Zertrümmerung der Aura findet auch auf Personen Anwendung. Dadurch, dass das

Fernsehen tagtäglich jede verstopfte Pore eines Stars vor das unmittelbare Angesicht des

Fans bringt, verringert sich die Distanz zwischen Publikum und Idol und entweiht die

vormaligen charismatischen Würdenträger und Respektspersonen von dem, was Benjamin

"Aura" nennt (vgl. Gmür 2002: 12).

Da wir aber in einer Zeit leben, in der die Aufmerksamkeit dem Geld den ersten Rang auf

der Liste der erstrebenswerten Güter abgelaufen hat und sich ohne massenmediale

Aufmerksamkeit nichts verkaufen lässt, ist ein Idol, egal aus welchem Bereich des

öffentlichen Lebens, mehr denn je auf (Dauer-)Präsenz in den Medien angewiesen.

Gleichzeitig zerstört diese Präsenz aber, wie vorangehend dargelegt, die Aura des Idols,

was dazu führt, dass sein Startum in sich zusammenfällt und sein Marktwert sinkt.

Sendungen wie "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!" (RTL) haben sich der

Dokumentation der Zerstörung der Aura zum alleinigen Ziel gemacht.

3.2.3 Das Ende des Stars

Stars, oder solche, die hoffen, durch die Popularität der Sendung (wieder) zu einem zu

werden, werden ungewaschen und zerzaust in den denkbar unangenehmsten Situationen

regelrecht vorgeführt; selbstverständlich mit der Einwilligung der jeweiligen traurigen

Protagonisten, die zwar begriffen haben, dass sie für ihr Stardasein Medienpräsenz

brauchen, die aber ganz offensichtlich und zu ihrem eigenen Leidwesen nicht begriffen

haben, dass sie durch das extreme Vorführen ihrer "Menschlichkeit" für alle Zeiten von

ihrer Star-Ausstrahlung befreit werden.

In unserer heutigen Zeit, in der jede raumzeitliche Distanz getilgt wird, sind Stars wie

Marylin Monroe oder James Dean nicht mehr möglich. Wir haben es mit einem

klassischen Paradox zu tun: Wenn Stars nicht durch die Medien präsentiert werden,

existieren sie nicht, und wenn sie uns in den Medien präsentiert werden, verlieren sie das,

was sie zum "Idol" macht. "Ferne ,heiligt', Nähe ,entheiligt'" (Gmür 2002: 12).

3.2.4 Demontage als Quotenrenner

Das Fernsehen hat es in jüngster Zeit verstanden, mit der gefilmten Demontage der Aura

Quote zu machen: Die Sendung "Die Comeback-Show" liess ehemalige Showgrössen aus

der Musikbranche in einem Wettstreit gegeneinander antreten, der im Ablauf praktisch

identisch mit den "Popstars" - Sendungen war. Aufgabe der Jury war es, die ehemaligen

Stars gehörig abzukanzeln und ihre Darbietungen zu verreissen. Das Konzept war ein

Erfolg; zumindest für die TV-Anstalt, welche die Sendereihe ausstrahlte. Die

Teilnehmenden, von denen keiner ein ernst zu nehmendes Comeback schaffte, dürften

mittlerweile bereits wieder am tingeln durch die Festzelte sein.

Es scheint sich ein Trend abzuzeichnen, dieses Scheitern von (ehemaligen) Stars in

Sendegefässen quotenbringend zu thematisieren. Dem Publikum gefällt es offensichtlich.

Es bringt damit mit zum Ausdruck, dass die Zeiten der Legenden umwobenen Idole vorbei

sein dürften und der Ausverkauf dadurch beschleunigt wird, dass mit den Auslaufmodellen

noch schnell Kasse gemacht wird. Daniel Küblböck, der als dritt platzierter aus der ersten

"Deutschland sucht den Superstar" - Reihe einen Medienhype der Sonderklasse ausgelöst

hatte, wurde mittlerweile trotz (oder wegen) seinem Auftritt in "Ich bin ein Star - Holt

mich hier raus!", wo er unter anderem ein Duschbad mit Tausenden von Kakerlaken über

sich ergehen lassen musste, von seiner Plattenfirma BMG auf die Strasse gestellt; nicht

besser ging es seinen Kolleginnen Vanessa, Gracia und Juliette, die ebenfalls vorderste

Plätze beim Medienphänomen "DSDS" ersungen und erlächelt hatten.

Gegenwärtig hat Pro7 einen Quotenerfolg mit der Sendung "Die Alm". Stars, die den Zenit

ihrer Karriere bereits hinter sich haben und solche, die bereits einmal kurz vor dem ganz

grossen Durchbruch gestanden haben, leben auf der Alm ein Leben, das deutlich einfacher

als der Alltag der Zuschauer ist. Wer heute ein Star sein will, muss offensichtlich unten

durch. Vorbei sind die Zeiten, in denen Stars divenhaft auf ihre Anhängerschar herunter

geschaut haben. Die Vorzeichen haben sich geändert: Stars sind zum Spielball ihrer Fans

geworden, die sie nach ihren eigenen Vorstellungen formen und für ihre Bedürfnisse

zurecht biegen. Waren Stars früher starke Persönlichkeiten, die aufgrund ihres Talents und

Charismas eine bestimmte Gruppe von Menschen derart begeisterten, dass diese sie

idolisierten, so ist es heute umgekehrt. Es sind die Stars, die vor ihren Fans auf die Knie

gehen und um ihre Stimmen buhlen, damit sie nicht abgewählt und mit der Verbannung

aus dem öffentlichen Leben bestraft werden. Stars erschaffen sich nicht länger kraft ihres

Talents und ihrer Ausstrahlung eine Fangemeinde, sondern die Fangemeinde erschafft sich

ihren Star.

3.2.5 Stars aus der Retorte

Das Faszinierende an der "Popstar" - Castingsendereihe, die auf dem ganzen Planeten statt

fand und in Deutschland "Deutschland sucht den Superstar" hiess, war die auffallende

Unauffälligkeit der meisten Kandidaten und Kandidatinnen. Sie waren wie Mineralwasser,

das die einzelnen Zuschauer mit ihrem jeweiligen Lieblingssirup anreichern konnten, wie

Roboter, die sich je nach Fan zum "perfekten" Idol programmieren liessen, wie eine leere

Leinwand, in dem man sein ich-schwaches Selbst hinein projezieren konnte, um sich mit

dem im Scheinwerfer ausgeleuchteten Retortenstar selbst auf der grossen Bühne der

Eitelkeiten zu fühlen. Und weshalb auch nicht: schliesslich hatte man ihn ja gemacht.

Wehe aber, wenn der am Reissbrett kreierte Star es wagte, lebendig zu werden und eine

Eigendynamik entwickelte: dann wurde er ganz schnell entsorgt und durch eine andere,

identisch persönlichkeitslose Projektionsfläche ersetzt. Stars werden nicht länger ihrer

Persönlichkeit wegen geliebt, sondern gerade deshalb, weil sie persönlichkeitslose

Projektionsflächen für das eigene schwache Selbst sind; genau so, wie in E.T.A.

Hoffmanns Schauernovelle "Der Sandmann", in der sich der Hauptprotagonist in eine

Holzpuppe und in ihre alles wissenden, alles verstehenden Glasaugen verliebt.

3.2.6 Vollendete Ähnlichkeit als absoluter Unterschied

Während die Sendung "Popstars" noch vorgab, Talent entdecken und fördern zu wollen,

stellen die aktuellen Formate nur noch die Demontage der Roboterstars ins Zentrum. Bei

"Popstars" stand die Identifikation mit "seinem" Star im Zentrum, zusammen mit dem

Vorleben der Möglichkeit, dass jeder die Chance habe, über Nacht selbst zum Superstar zu

werden. Der "Superstar" entstammt schliesslich der haargenau gleichen Gattung wie der

"Fan", und somit kann dann doch auch der Fan jederzeit zum Superstar werden; oder

nicht? Wir neigen eher dazu, uns der Meinung Adornos und Horkheimers anzuschliessen,

die dazu folgendes schreiben:

"In solcher Gleichheit ist die unüberwindliche Trennung der

menschlichen Elemente gesetzt. Die vollendete Ähnlichkeit ist der

absolute Unterschied. Die Identität der Gattung verbietet die der Fälle.

Die Kulturindustrie hat den Menschen als Gattungswesen hämisch

verwirklicht. Jeder ist nur noch, wodurch er jeden ersetzen kann:

fungibel, ein Exemplar. Er selbst, als Individuum, ist das absolut

Ersetzbare, das reine Nichts, und eben das bekommt er zu spüren, wenn

er mit der Zeit der Ähnlichkeit verlustig geht" (Horkheimer/Adorno

3.3 Der Autonomieverlust als Folge des technischen

Fortschritts

3.3.1 Das Diktat der Geschwindigkeit

Einhergehend mit dem Bedeutungsverlust aller Werte sind wir auch Teil einer Welt, die

immer schneller wird und uns pausenlos mit Informationen und Bildern bombardiert. Ob

wir wollen oder nicht: Es ist unmöglich, sich dem Diktat der Geschwindigkeit und der

Flüchtigkeit zu widersetzen. Diese Ohnmacht hat zu einem markanten Souveränitätsverlust

des Individuums geführt. Roland Barthes bemängelt diesen Autonomieverlust in seiner

Gegenüberstellung von Bild und Film, wo er sagt, dass gar uns gar keine Zeit bleibe, dem

Bild aus dem Film unsere eigenen Gedanken hinzuzufügen und uns einzubringen. Er

bedauert, dass wir gar nicht in der Lage seien, die Augen vor der Leinwand, zu der unser

Leben geworden ist, zu schliessen, weil wir sonst, wenn wir die Augen wieder öffnen,

nicht mehr dasselbe Bild vorfänden. Barthes kommt zum Schluss, dass wir zu ständiger

Gefrässigkeit verdammt seien, und dass wir mehr und mehr die Chance verlieren würden,

uns als eigenständig denkendes Individuum in das, was wir auf der Leinwand sehen,

einzubringen, weil uns schlicht und einfach die Zeit fehle, um über das Geschehene

nachzudenken und darüber zu reflektieren (vgl. Barthes 1980).

3.3.2 Reizüberflutung und Teilnahmslosigkeit

Das Übermass an Informationen und die Geschwindigkeit, mit der die in den

Massenmedien übertragenen Ereignisse einander abwechseln, machen jede dauerhafte und

nachhaltige Gefühlsbeteiligung unmöglich. Die Folge ist eine eigentümliche Mischung aus

oberflächlicher Sensibilisierung und tiefer Gleichgültigkeit gegenüber dem

Weltgeschehen.

Letztlich führt die Reizüberflutung zu einer Erschöpfung der kognitiven und emotionalen

Aufnahmefähigkeit des Mediennutzers, die in einen Verlust von Sensibilität und in eine

Indifferenz auch gegenüber relevanten Entwicklungen und Ereignisse münden. Diese

Nivellierung ist auch daran ersichtlich, dass Probleme unterschiedlichster Tragweite nicht

länger als unterschiedlich erkannt werden, was zu einer Banalisierung des Abnormen, einer

Dramatisierung des Alltäglichen und schliesslich in bestem postmodernem Sinne zu einer

Verschleierung des sozial-moralischen Wertesystems führt (vgl. Gmür 2002: 56).

3.3.3 Hybridisierung

Die Folge davon ist die zunehmende Vermischung von Information und Unterhaltung.

Mikos traditionelles Verständnis der Begriffe und seine Meinung, dass das, was

Information ist, nicht Unterhaltung sein kann, und was Unterhaltung ist, nicht Information

sein kann (vgl. Mikos 2000a: 166) hat in der postmodernen Gesellschaft nicht länger

Gültigkeit. Es ist alles andere als plausibel, dass eine Umkehr zur alten Trennung von

Information und Entertainment in einer Epoche stattfinden wird, welche die Begriffe

"Seriosität und Objektivität" nicht länger von "Emotionalität und Fiktionalität" trennen

kann. Und sogar wenn sie es könnte, würde sie es nicht wollen, weil sie vor der Flut der

Informationen und der Verantwortung, die sich ergäbe, wenn wir die uns zugänglichen

Informationen ernst nähmen, kapitulieren oder zugrunde gehen müsste.

Die Sendung "NakedNews" des Internetfernsehens setzt die vorab geschilderte

Entwicklung am konsequentesten um: Nachrichten von höchster Tragweite und grösster

Trivialität werden dem Zuschauer völlig durchmischt von jungen Sprecherinnen

präsentiert, die sich vor laufender Kamera auch gleich noch ihrer Kleidung entledigen und

ihre Reize offenbaren. Es handelt sich ganz offensichtlich um ein Beispiel von

Hybridisierung in (körperlicher) Reinkultur...

3.3.4 Realere mediale Realität

Noch einen Punkt gilt es zu betonen: Dadurch, dass wir mittlerweile mit der ganzen Welt

vernetzt sind und per Mausklick in Kontakt mit der gesamten Aussenwelt stehen, ohne je

vom Schreibtisch aufstehen zu müssen, kommt es zu einer erstaunlichen Verschiebung in

Bezug auf die Beurteilung der Geschehnisse. Während frühere Generationen nur dann

wussten, was in der Welt vor sich ging, wenn sie es selbst gleichzeitig und gleichräumlich

miterlebten, erfahren wir heute viel mehr, wenn wir gerade nicht physisch dabei sind und

uns die Geschehnisse als Realität über den Bildschirm vermittelt werden. Dadurch kommt

es zu einer weiteren Verschiebung dessen, was uns als real und nicht real erscheint.

Mittlerweile kann man die Tendenz beobachten, dass viele Menschen das Gefühl haben,

gar nicht vollwertig real zu sein, wenn sie nicht über den Bildschirm existieren. Japaner,

die uns Westeuropäern in Punkto Technik stets eine Nasenlänge voraus sind, können

vermehrt dabei beobachtet werden, wie sie während ihres Aufenthalts in fremden Städten

pausenlos eine Kamera vor den Augen halten und alles filmen. Es scheint, als ob sie ihre

eigene Anwesenheit nur (und erst) dann glauben, wenn sie sie zu Hause auf dem eigenen

Fernsehbildschirm überprüfen können.

Jean Baudrillard beschreibt in seinem 1981 erschienen Buch "Simulation" den Verlust der

Realität zugunsten einer sogenannten "Hyperrealität", in der die Unterschiede zwischen

der individuellen Realität des einzelnen und der Scheinrealität des Bilderflusses in den

Medien einerseits nicht mehr zu trennen sind, und andererseits erst das Vorkommen in den

Medien als Beleg für die tatsächliche Existenz gilt (vgl. Barry 2002: 87). Mit anderen

Worten: Wenn ich mich nicht in den Medien sehen kann, dann gibt es mich nicht. Das

erklärt, weshalb immer mehr Menschen den Drang verspüren, sich in den Medien zu

produzieren. Deshalb stehen Tausende für einen Platz im "Big Brother" - Container

Schlange, und deshalb sind tagtäglich aufs Neue sämtliche Talkshow-Plätze von

Hausfrauen besetzt, die vor laufenden Kameras Dinge ausplaudern, die ihnen im direkten

Gespräch mit der Nachbarin die Schamröte ins Gesicht treiben würden.

3.3.5 Selbstverwirklichung durch Medienpräsenz

Wir definieren unsere inneren Empfindungen zunehmend durch das mediale Aussen.

Norman K. Denzin kommt in seinem 1995 erschienenen Buch "The Cinematic Society"

zum Schluss, dass die zentrale kulturelle Figur unserer Zeit der Voyeur sei. Kino,

Fernsehen, Video, DVD, allgegenwärtige Werbung und das Internet haben seinen

neugierigen Blick allgegenwärtig gemacht, und sämtliche Erfahrungen werden zunehmend

von visuellen, medialen Realitäten durchdrungen (vgl. Winter 2002: 163). Denzin stimmt

der These der Selbstverwirklichung durch Medienpräsenz zu, indem er sagt, wir würden

uns nur noch durch das Kino und Fernsehen kennen und sehen, als Voyeure, die durch ein

Meer von medialen Symbolen driften. Erst in der Auseinandersetzung mit den

Bilderwelten der Medien sind wir überhaupt noch imstande, ein postmodernes Selbst aus

uns zu bilden (vgl. Winter 2002 : 164).

3.3.6 Agieren in Bilderwelten

Ein weiteres Beispiel dafür, dass die menschliche Beziehung zur Realität in der

technischen Zivilisation immer mehr durch Bilder vermittelt und die menschliche Tätigkeit

selbst zu einem Agieren in Bilderwelten wird, dürfte das chirurgische Operieren am

Monitor sein. Veränderungen, die der Chirurg am Bildschirm medial vornimmt, wirken

sich in der ganzen extremen Spannbreite von lebensrettend bis todbringend am

menschlichen Körper aus.

Nach gleicher Manier verfährt der Pilot, der am Bildschirm sein Flugzeug auf die

Landepiste setzt und der Soldat, der die Bombe per Mausklick auf das Monitorziel steuert.

Man agiert in Bildräumen, die von der Realität abgekoppelt sind. Die Einwirkung auf die

Realität ist technisch vermittelt, ohne dass wir selbst noch leiblich in sie involviert wären

(vgl. Gmür 2002: 40f.).

3.3.7 Verbildlichungsbedürfnis

Die Beteiligung an der Welt ist also zunehmend bildvermittelt. Daraus erklärt sich das

zunehmende Bedürfnis der Menschen nach einer Verbildlichung ihres Lebens und das

Phänomen, dass sie ihr Leben desto wirklicher finden, je mehr sie ihre Existenz durch

mediale Bilder steigern können.

Dieses Verbildlichungsbedürfnis beschränkt sich keineswegs auf wissenschaftliche oder

technische Aspekte: Gerade auch die emotionalen Momente wollen bildvermittelt erlebt

werden. Bester Beweis sind die unzähligen Talkshows, in denen sich ansonsten

unbescholtene Bürger vor laufender Kamera Heiratsanträge machen, Seitensprünge

gestehen und zugeben, dass das Kind doch nicht vom Partner, sondern von dessen besten

Freund sei. Im Anschluss an die Talkshows folgten in den 90er Jahren "Reality"-

Sendungen "wie Verzeih mir" auf RTL, oder "Nur die Liebe zählt", die nach wie vor auf

SAT1 zu sehen ist. Die beiden Titel waren jeweils auch gleich Programm und fügten dem

reinen Talk, getreu der zunehmenden Hybridisierung der Postmoderne allgemein und der

Fernseh-Genres im speziellen, eine Reihe weiterer Aspekte hinzu.

3.4 Biographiesuche als Folge der Mobilität

3.4.1 Mobilität als soziale Entwicklung

Es sind jedoch nicht nur die technischen Möglichkeiten als Folge des Fortschritts, die dazu

geführt haben, dass sich die Menschen ihr Selbst in zunehmendem Masse durch die

Medien zusammenfügen, sondern auch die Tatsache, dass die soziale Entwicklung der

Gesellschaft sich seit dem zweiten Weltkrieg zunehmend zu einer Gesellschaft verändert

hat, in der fixe Verbände wie Familien oder Dorfgemeinschaften an ihrer Bedeutung für

den einzelnen eingebüsst haben. Was stattgefunden hat, ist ein Umbruch im Verhältnis von

Arbeit und Leben. Ulrich Beck schreibt, dass das Mehr an Geld wie das Mehr an

erwerbsarbeitsfreier Zeit mit den traditionalen Tabuzonen klassen- und

familienbestimmten Lebens kollidiere. Er sagt weiter, dass das Geld die sozialen Kreise

neu aufmische und sie im Massenkonsum zugleich verschwimmen lasse. Die

Überschneidungszonen wachsen, und die Grenzen zwischen Vereinen und Wirtshäusern,

Jugendtreffs und Altenheimen, die noch in der Weimarer Republik das Leben auch

ausserhalb der Arbeit erkennbar in Klassenwelten trennten, würden unkenntlich und

aufgehoben (vgl. Beck 1986: 124f.), genauso wie die klare Trennung zwischen Arbeitsund

arbeitsfreier Zeit. Die Folge davon ist eine Mobilität, die nicht nur geographische

Grenzen verschiebt und überwindet, sondern auch eine soziale Mobilität, welche die

Lebenswege und Lebenslagen der Menschen, die bis anhin in fixen und geordneten, ja fast

schon klar vorgezeichneten Bahnen verliefen, gehörig durcheinander wirbeln. Es kommt

zu einer Verselbständigung der Lebenswege gegenüber den Bedingungen, aus denen sie

stammen, und gewinnen eine Eigenrealität, die sie überhaupt erst als persönliches

Schicksal erlebbar machen (vgl. Beck 1986: 126).

3.4.2 Schwierigkeiten als Folge der Freiheit

Ein weiterer entscheidender Punkt für die zunehmende Mobilität über soziale Klassen

hinaus ist die Möglichkeit der schulischen Ausbildung, die es einem ermöglicht, dort tätig

zu sein, wo man Talent hat, und nicht einfach dort, wo man aufgrund der Geburt sein

Schicksal abarbeiten muss.

Diese Freiheit, das zu tun, was man will und kann, bringt aber auch Schwierigkeiten und

Eigenverantwortung mit sich, indem die Menschen vor dem Hintergrund der inzwischen

sozial und politisch erkämpften Rechte aus den althergebrachten Klassen und Banden

herausgelöst sind und zur Schaffung ihres Lebensunterhaltes vermehrt auf sich selbst und

ihr individuelles Können angewiesen sind (vgl. Beck 1986: 131).

Vorbilder für das eigene Leben, die früher in der Familie und der Dorfgemeinschaft zu

finden waren, sind nicht mehr unbedingt in Greifnähe. Mit der Ausstrahlung von

"Reality"-Formaten bieten die TV-Sender aber eine breite Palette von Biographien an, an

denen sich der moderne Mensch orientieren kann. "Die Bereitschaft, sich in die

Lebensgeschichten anderer einzufühlen, ergibt sich aus der Ungewissheit der eigenen

Zukunft in einer Gesellschaft, die Normalbiographien immer weniger bereithält", schreibt

Plake (1999: 125). Der Fernsehzuschauer stellt sich die Frage, was wäre, wenn ihm das

gleiche wie den Menschen in Talk-und "Reality"-Formaten passieren würde. "Was wäre,

wenn der Sohn Alkoholiker, der Partner krankhaft eifersüchtig, der Kollege ein Intrigant

wäre? In einer sich individualisierenden Gesellschaft ist jede Beziehung zum Risiko

geworden" (Plake 1999: 125).

Max Weber erklärte gemäss Ulrich Beck (1986: 135), dass die Menschen mit dem

Fortschreiten der Moderne aus ihren traditionellen Lebensformen herausgelöst und auf sich

selbst zurückgeworfen würden. Er sah, wie der Verlust der kirchlich gebundenen

Jenseitigkeit das Diesseits in eine unendliche Emsigkeit versetzte. Die Welt war durch den

Verlust der fixen Werte und die Abkehr vom bedingungslosen Glauben an ein

heilbringendes Schicksal im Gefolge einer strengen Religionshörigkeit entzaubert worden

(vgl. Beck 1986: 135).

3.4.3 Hinwendung zu softeren Inhalten

Seit einiger Zeit ist aber zu beobachten, wie junge Menschen, gerade auch aus dem Musikund

Entertainmentbusiness, indem jegliches Bekenntnis zu Gott lange verschmäht wurde

und als Inbegriff der Biederkeit galt, vermehrt betonen, dass sie Stärke, Ruhe und

Zufriedenheit aus dem Glauben an Gott schöpfen würden. Neue Kirchen mit jugendlichen

Laienpriestern erfreuen sich ungeahnter Popularität, die als Suche nach einem Sinn

gedeutet werden, der abhanden gekommen und dessen Lücke noch nicht durch etwas

Neues gefüllt worden ist. In einer Zeit, in der Inhalte aufgrund der alles gleich machenden

Ambivalenz an Wichtigkeit verlieren, hat eine Institution wie die Kirche wieder eine

Chance, weil sie Sicherheit und Ruhe vermittelt. Ihre Inhalte sind dabei sekundär. Wenn

die ganze Welt sich durch konstante, rasante Bewegung auszeichnet, kann die Kirche

durch ihren Stillstand und dadurch, dass sie sich nicht der Hektik des Zeitgeistes

verschrieben hat, durchaus wieder an Popularität gewinnen. Es wäre denkbar, das

Walitschs Befürchtung (1995: 30), die Entwicklung in den Medien werde zunehmend

"härter, grausamer und brutaler" werden, nicht zutrifft, und sich im Gegenteil auch in den

Programminhalten ein Gegentrend hin zu softeren und weicheren Themen abzeichnen

könnte, der in den Botschaften der Werbung bereits verwirklicht ist.

3.4.4 Verlust der Unterscheidungsfähigkeit

Mit der Enttraditionalisierung und der Schaffung weltweiter Mediennetzwerke im Zuge

der fortschreitenden Industrialisierung wird der Mensch zunehmend aus seinem

unmittelbaren Lebenskreis, aus dem es früher kaum ein Entrinnen gab, herausgelöst. Die

Probleme, die sich daraus ergeben, beschränken sich nicht auf die Schwierigkeiten einer

auf sich selbst gestellten Biographie-Bildung, sondern sie beinhalten auch die zu spürende

Überforderung hinsichtlich der Öffnung seines ursprünglich klar begrenzten Horizonts hin

zu einem Welt umspannenden: Das Individuum muss sich zusätzlich zur Gestaltung der

eigenen Biographie auch mit der Biographie der Welt auseinandersetzen, die auf ihn

eindringt und deren Teil er durch die Netzwerke geworden ist. Bei gleichzeitiger

Versenkung in die Anonymität des Weltdorfes und der Bedeutungslosigkeit, die seine

Stellung im Vergleich mit der Masse der Milliarden von anderen Menschen, die durch das

Weltnetz mit ihm in Verbindung stehen mit sich bringt, wird er auf den scheinbaren Thron

eines Weltgestalters gehoben und dadurch in den Zustand der potentiellen

Dauerstellungsnahme versetzt. Zu ertragen ist diese Dauerüberforderung nur durch

Abstumpfung, Weghören und dem Gleichmachen von Ungleichem (vgl. Beck 1986: 219).

Dadurch, dass uns die Massenmedien pausenlos die abscheulichsten Verbrechen und die

schlimmsten Ungerechtigkeiten aus dem gesamten Weltdorf vor Augen führen, werden wir

zu Zeugen gemacht. Die Möglichkeit, etwas daran zu ändern, fehlt uns in den allermeisten

Fällen, so dass wir uns an unsere Ohnmacht gewöhnen müssen, wenn wir nicht an ihr

zugrunde gehen wollen. Wir sind also nicht nur Zeuge der Verbrechen, vielmehr

verweigern wir auch die Hilfeleistung und schauen weg. Diese Tendenz ist auch in der

realen Welt vermehrt zu beobachten: In ein Verbrechen, dass direkt vor uns begangen

wird, greifen wir je länger je weniger ein. Unserer Reaktion ist je länger je mehr Nicht-

Reaktion, genau so, wie wenn wir das identische Verbrechen über den Fernsehbildschirm

sähen. Die Unterscheidung zwischen dem, was wir medial vermittelt sehen, und dem, was

wir unvermittelt sehen, ist für den Voyeur obsolet geworden.

3.4.5 Medien als Familienersatz

Der aktuelle Menschentypus ist also einer, der sich seine Biographie weitgehend

unabhängig von Klassen und Schichten gestalten kann. Enge und starre

Gesellschaftsverbände, die sich in den Zeiten der finanziellen Not bildeten, haben an

Bedeutung zugunsten einer sozialen Mobilität eingebüsst. Der Mensch ist mobil, aber auch

vermehrt auf sich allein gestellt. Auf eine einfache Formel gebracht wird er immer

"einsamer und immer gemeinsamer" (Gmür 2002: 57). Auf eine sterile Weise haben die

Medien die Funktion des Dorfbrunnens oder des gemeinsamen Familientisches

übernommen. Der Mangel an sinnlichem Erleben wird durch ein übertriebenes Gefühlsund

Erlebnisangebot kompensiert, für deren Nutzung in einer Epoche, in welcher der

Mensch nicht 24 Stunden am Tag mit dem Stillen seines Hungers und dem Kampf ums

Überleben beschäftigt sein muss, mehr als genug Zeit bleibt.

Wir erleben nicht mehr selbst, sondern wir schauen zu, wie erlebt wird. Während wir die

Füsse auf dem Sofa haben, liefern uns die Massenmedien eine breite Palette von

Emotionen, an der wir uns gütlich tun können, ohne uns selbst die Hände schmutzig

machen zu müssen.

3.5 Die Ökonomie der Aufmerksamkeit

3.5.1 Das Leben als Bühne

Das Informationszeitalter, in dem wir leben, zeichnet sich durch eine nicht mehr zu

bewältigende Flut von Informationen aus. Da die Kapazität unserer Aufmerksamkeit zur

Informationsverarbeitung begrenzt ist, sind wir gezwungen, mit unserer Aufmerksamkeit

zu haushalten. Wir sind gezwungen, zu selektionieren und wegzulassen, was uns so schwer

fällt, dass wir uns permanent auf zu viel einlassen und dafür mit Hektik und Stress

bezahlen (vgl. Franck 1998: 49ff.).

Dadurch, dass sich die Menschen zunehmend in Städten ansiedeln, hat sich eine neue

Lebensform gebildet, in der sich die Menschen hauptsächlich miteinander beschäftigen.

Das Leben in der Stadt lässt die Selbstdarstellung zum selbstverständlichen und zentralen

Lebensinhalt werden (vgl. Franck 1998: 54). Das Leben wird zu einer Bühne, oder zu einer

Verlängerung und Ausdehnung der Leinwand und des Bildschirms. Es wird der

erstaunlichste Aufwand betrieben, um so viel Aufmerksamkeit der anderen wie möglich zu

erheischen. In der Stadt wird die Differenz zwischen öffentlicher Schauseite und

abgeschirmter Privatsphäre zu einem Gestaltungsprinzip des Lebens, wobei es in letzter

Zeit die Tendenz zu beobachten gibt, dass auch diese Grenze, in Anlehnung an die

postmoderne Aufhebung praktisch aller anderen, immer mehr durchdrungen wird, und

somit das Private nicht mehr vom Öffentlichen unterschieden wird.

3.5.2 Inszenierte Tabus

Intimitäten, die früher nur mit schwersten Seelennöten und Gewissensbissen in einer

dunklen Stunde dem engsten Vertrauten gebeichtet wurden, werden heute in die

Gehörgänge des gesamten Universums gebrüllt. Das Interesse der Welt an den

skandalisierten Intimitäten ist jedoch längst im Sinken begriffen. Wiegerling bemerkt dazu,

dass "auch das Intime [...] wie das damit verbundene Feld der Scham Wandlungen

erfahren hat" (Wiegerling 2002: 65). Er kommt zum Schluss, dass Schamgrenzen als

solche gar keinen fixen Bestand haben, sondern dass sie lediglich in spielerischer Form

aufrecht erhalten würden, um mit dem geringsten Effekt den grösstmöglichen

aufmerksamkeitsökonomischen Effekt zu erzielen (vgl. Wiegerling 2002: 68). In der

Postmoderne gibt es keine Tabus mehr: wie sollten sie folglich noch gebrochen werden

können? Die kathartische Wirkung, die der fortschreitenden penetranten Thematisierung

von Gewalttätigem, Peinlichem und Absurden bisweilen noch zugesprochen wird, scheint

ebenfalls nicht mehr gegeben, sondern stellt eher den im postmodernen Zeitalter

spielerisch gewordenen Umgang mit Tabus dar. Wir wären noch so gerne geschockt, nur

schafft es in der wertfreien Gesellschaft nichts mehr, uns richtig vor den Kopf zu stossen.

Das kollektive Entsetzen ist genauso inszeniert, wie die kollektiv stattfindende

Ergriffenheit beispielsweise beim Tod von Prinzessin Diana, wo die Trauer weniger mit

dem Tod der Verstorbenen zu tun hatte, als vielmehr mit dem Wissen um die kollektive

Ergriffenheit. Auch hier läuft die medial aufbereitete Trauer der realen den Rang ab. Es

wäre interessant herauszufinden, wie vielen Menschen den Tod der im wirklichen Leben

völlig fremden Diana mehr unter die Haut ging als der Tod des netten Nachbars oder der

Frau in der Bäckerei gegenüber, bei der sie tagaus tagein ihre Brötchen gekauft haben.

Die kollektive Trauer wird vielleicht gerade deshalb so gross gemacht, weil sie beweisen

soll, dass wir trotz medialer Abstumpfung immer noch zu tiefen Gefühlen fähig sind.

Allerdings bleiben diese Empfindungen auf der Ebene des medialen Spiels und haben

keine Auswirkungen auf unseren Alltag. Der Tod der Prinzessin Diana, so sehr er von

vielen auch in ihrer inszenierten Tragik ausgekostet worden sein mag, hatte keine weiteren

Folgen für das Leben der medial Trauernden. Der Tod der Bäckersfrau von gegenüber hat

immerhin zur Folge, dass die Brötchen künftig irgendwo anders gekauft werden müssen;

denn wenigstens vorläufig funktioniert die Ernährung auch in der Postmoderne nur über

den ganz realen Weg...

3.5.3 Mitmenschen als Projektionsfläche

In einer Zeit, in der wir uns mehr und mehr über das mediale Aussen definieren, respektive

gar nicht mehr zu einer Trennung zwischen einem Innen und einem Aussen fähig sind,

hängt es in eminentem Masse von der Wertschätzung ab, die wir von anderen empfangen,

was wir von uns selbst zu halten haben (vgl. Franck 1998: 75). Genau so, wie wir den

Bildschirm als Projektionsfläche für unser Selbst benutzen, benutzen wir auch unsere

Mitmenschen als Spiegel für die Projektion unseres Selbst, welches bei vielen und in

zunehmendem Masse nur noch körperlose Projektion ist. Der Auftrag, für reichliche

Beachtung unserer Person zu sorgen, verlangt nun aber, in diesem Tauschgeschäft

erfolgreich zu sein. In einer Zeit des materiellen Wohlstandes, in der die Grundbedürfnisse

kein Thema sind, wird es für das Wohlbefinden sogar immer wichtiger, wie man vor sich

selbst dasteht. Franck schreibt, dass "Aufmerksamkeit zu beziehen heisst, eine Rolle im

Bewusstsein des anderen zu spielen" (Franck 1998: 84).

3.5.4 Kultur der Attraktivität

Noch nie war es wichtiger, im Seelenleben der anderen eine Rolle zu spielen, weil erst die

für uns sichtbare Projektion im Seelenleben der anderen als Beweis dient, dass wir

wirklich jemand sind. Noch nie lockten so breite Wege zu einem grösseren Publikum, und

noch nie standen dem Geltungsdrang so vielversprechende Karrieren offen. Noch nie

durfte sich die Eitelkeit so in ihrem Element fühlen, noch nie feierte der Kult um die

Attraktivität vergleichbare Feste, noch nie liess sich der Tauschwert, den die eigene

Aufmerksamkeit in den Augen der anderen hat, auf so geschäftsmässige Weise

maximieren. Es ist kein Wunder, dass diese Erweiterung des Optionsraumes eine Wirkung

auf das Empfinden und Streben der Menschen hat und ein Wandel des allgemeinen

Geschmacks, Verschiebungen in den gewöhnlichen Relevanzordnungen und ein

Stilwandel der Kultur und des öffentlichen Lebens als ganzer feststellbar ist (vgl. Franck

Franck spricht in diesem Zusammenhang von einer sogenannten Kultur der Attraktivität:

Da Attraktivität Voraussetzung für das Erlangen von Aufmerksamkeit darstellt, ist es

eminent wichtig, zu lernen, wie man attraktiv erscheint. Stars waren jahrzehntelang

Vorbilder in Sachen Stil, Geschmack und Lifestyle; sie machten vor, wie man sich gibt

und aufmacht, womit man sich umgibt, und was man drunter und drüber trägt. Es liegt in

der Natur der Sache, dass der Kult um die Attraktivität der eigenen Person nicht umhin

kommt, den Reiz der Erotik zu kultivieren. Der Körper wird geformt, gecremt, getoned

und glattrasiert, er wird aufgepolstert und abgesaugt.

3.5.5 "Ich will ein berühmtes Gesicht"

Die Identifikation erfolgt je länger je weniger über den eigenen von der Natur und den

elterlichen Genen erhaltenen Körper. Stattdessen wird der Body je länger je mehr ein

Mittel zur Aufmerksamkeitsmaximierung. In dem neuen "Reality"-Format "I want a

famous face", das mit grossem Erfolg auf MTV läuft, treten halbwüchsige Bengel auf, die

vor laufender Kamera sagen, dass sie das gleiche Gesicht wie Brad Pitt haben wollen, weil

sie sich dadurch eine ökonomische Verbesserung ihrer Aufmerksamkeitsmaximierung

erhoffen. Ihnen werden dann auf Kosten von MTV, der, seit die Musikindustrie nur noch

zu einem mässig profitablen Anhängsel der Aufmerksamkeits-Eitelkeitsindustrie

verkommen ist, längst von einem reinen Musiksender zum Lifestyle-Sender geworden ist,

die Kosten übernommen, um sich ihre gesunden Zähne abschleifen und überkronen zu

lassen. Die Nase wird schmal geschliffen und gerade gebogen, das Kinn modelliert, die

Wangenknochen angehoben und die Lippen zum Schmollmund aufgespritzt.

Am bemerkenswertesten scheint die Tatsache, dass der Begriff vom eigenen Gesicht und

vom fremden Gesicht postmodern abhanden gekommen ist. Die Teilnehmenden stellen

öffentlich die Frage, weshalb denn nur Brad Pitt ein Recht auf dieses Gesicht haben solle,

das so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht und so viel Prestige, Anerkennung und Ruhm

abwirft. Sollte denn wirklich nur gerade er ein Recht auf dieses Gesicht und das Kapital,

das es abwirft, haben? Wenn es möglich ist, dieses Gesicht anstelle des eigenen zu tragen,

dann wird die eigene Identität, falls es so etwas denn (noch) gibt, gerne dafür hergegeben.

Was das längerfristig für Folgen haben wird, ist schwer abzuwägen. Für den Moment soll

es genügen, festzustellen, dass die Opfer, welche man bereit ist, der Ökonomie der

Aufmerksamkeit zu bringen, enorm sind, und dass Schein und Sein definitiv nicht mehr

voneinander zu trennen sind.

Die "Reality"-Sendung "I want a famous face" betritt auch insofern Neuland, als dass sie

das erste Format ist, welches nicht auf eine Verbesserung der "eigenen" Optik und der

Unterstreichung der "eigenen" Persönlichkeit und des "eigenen" Typs abzielt, sondern

vielmehr die Grenze zwischen "eigenem" Aussehen und "fremdem" Aussehen beiseite

lässt, ohne diese Tatsache je zu thematisieren. Offensichtlich scheint dies kein Thema

mehr zu sein; Wieso sollte es auch Brad Pitt vorbehalten sein, wie Brad Pitt auszusehen...

3.5.6 Die Echtheit

Wenn Stars so einfach kopiert werden können, dann ist ihre Aura definitiv abgeschafft.

Wenn aber die Aura nicht mehr da ist, dann ist auch der Star nicht mehr da.

Im bereits erwähnten Buch "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen

Reproduzierbarkeit widmet Walter Benjamin einen längeren Abschnitt dem Thema der

Echtheit. Er thematisiert keineswegs nur die Echtheit eines Kunstwerks im herkömmlichen

Sinne, sondern zum Beispiel auch die Echtheit einer Landschaft, die im Film am

Betrachter vorbeizieht, oder analog dazu die Echtheit einer Person. Benjamin geht soweit,

dass er sagt, die Echtheit sei der empfindlichste Kern am Gegenstande eines Kunstwerkes.

Die Echtheit einer Sache sei der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren, von

ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Die

Reproduktionstechnik löse das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition und des

Ursprungs ab und setze an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises.

Diese Prozesse, so Benjamin weiter, würden zu einer gewaltigen Erschütterung der

Tradition führen, welche die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der

Menschheit sei (vgl. Benjamin 1963: 13f.).

Doch zurück zu den Jugendlichen, die ein berühmtes Gesicht haben wollen: Sie übersehen

völlig, dass es die Aura der Einzigartigkeit ist, von der sie sich angezogen fühlen. Genau

diese Einmaligkeit zerstören sie alsdann mit ihrer Reproduktion. Wenn aber das Gesicht

die Aura des Einmaligen verloren hat, dann ist auch der Grund, das Gesicht imitieren zu

wollen, nicht mehr vorhanden, und somit ist die ganze schmerzliche Operation (im

doppelten Sinne) unsinnig und paradox.

3.5.7 Der Narziss

Gmür kommt zum Schluss, dass die mangelnde Abgrenzung des Selbst vom Umfeld, die

schon soweit geht, dass nicht einmal mehr vor fremden Gesichtern Einhalt gemacht wird,

die defizitäre Selbst-Verselbständigung narzisstische Beziehungsmuster verschiedener

Spielarten hervorbringt. Eine Variante, so Gmür, sei die krankhafte Beschäftigung mit dem

eigenen Erscheinungsbild (vgl. Gmür 2002: 69). Diese narzisstische Besetzungsmanie des

eigenen Körpers lässt sich an zahlreichen Alltagsbräuchen erkennen:

Vorbeugungsmassnahmen gegen Alterserscheinungen, übertriebene Sorge um die Figur,

extensiv betriebene Hygiene, Körper-Kult, Pflegeriten wie Wellness, Spa, Yoga, Solarium

und Diätetik (vgl. Lipovetsky 1995: 85), was eins zu eins den Inhalten der Talk- und

"Reality"- Shows entspricht.

In seiner Leere und Bedeutungslosigkeit als winziges Teil des grenzenlosen globalen

Netzwerks versucht der Narziss, mit den Techniken des Idols ebenfalls zu Glanz und

Ruhm zu kommen. Der Star-Rummel, der von den Medien systematisch gezüchtet wird,

steigert seine narzisstischen Träume von Prestige und grenzenloser Anerkennung, die ihm

als das non-plus-ultra verkauft werden, ins Grenzenlose.

Der narzisstisch, ich-schwache Menschentypus ist ein Kind seiner Zeit. Der Zustand

wachsender Orientierungslosigkeit und Fragmentierung des innerlich verflachten

Individuums, das aus den kommunikativen Bindungen traditionsgestützter Lebensstile

herausgelöst ist, macht dieses anfällig für mangelnde Unterscheidungsfähigkeit zwischen

Realität und Fiktionen und für die imitatorische Annahme medial aufbereiteter und

vorgefertigter Existenzstile. Es wird zu einem zusammengestückelten Fertigprodukte-

Subjekt. Weil es des Rückhalts einer historisch gewachsenen Regionalkultur entbehrt, ist

es schonungslos der Übermacht einer global gestreuten Bilderflut ausgesetzt, die es zur

Simulierung uneigentlicher Lebensstile anhält. Anstatt die eigene Selbstverwirklichung zu

leben, die aufgrund der sozialen und geographischen Mobilität in unserer Gesellschaft

jenseits von Schranken und Klassen möglich geworden ist, lebt der narzisstisch, ichschwache

Mensch eine Biographie, die medial erzeugt und medial organisiert ist (vgl.

Gmür 2002: 69f.).

Zur besseren Verständlichkeit muss angefügt werden, dass die psychiatrische Definition

des Begriffs "Narzissmus" von der landläufig darunter verstanden Selbstverliebtheit

abweicht, und man unter "Narzissmus" die Psychologie des Selbstwertgefühls versteht,

respektive eine Selbstbezogenheit, die nicht mehr zu unterscheiden vermag, was zur

Sphäre des selbst gehört und was nicht (vgl. Sennet 1974: 21).

Gmür vertritt den Standpunkt, dass eine Reihe von fixen inneren Objektbeziehungen

unabdingbare Voraussetzung für eine solide Ich-Struktur darstelle. Er schreibt, dass eine

ich-starke, gereifte Person über ein reiches Innenleben mit stabilen Objektrepräsentanzen

verfüge, während eine narzisstisch-orientierungslose Persönlichkeit in ihren

Objektbeziehungen von der Hand in den Mund lebe und die fehlenden oder flauen inneren

Objekte durch immer wieder neuere Objekte ersetzen müsse. Als Folge der fehlenden

Objektkonstanz sei der moderne Neurotiker ich-brüchig. Der Patient leide nicht mehr an

scharf umrissenen Symptomen wie Phobien oder der Konversion verdrängter sexueller

Energien in nervösen Störungen, sondern zunehmend an einer vagen, diffusen

Unzufriedenheit mit dem Leben und an der Empfindung, dass sein formloses Dasein sinnund

ziellos sei. Häufig beschreibe der Patient intensive Gefühle der Leere und der

Depression, heftige Schwankungen seines Selbstwertgefühls und eine allgemeine

Unfähigkeit, mit dem Leben zurechtzukommen. Ein erhöhtes Selbstwertgefühl könne der

Patient nur haben, wenn er sich mit starken, bewunderten Gestalten verbinde, nach deren

Zuwendung und Unterstützung er sich sehne. Sogar dann, wenn er seine Alltagspflichten

erfülle und sich dabei auszeichne, bleibe ihm das Erlebnis des Glücks versagt, und das

Dasein erscheine ihm häufig nicht lebenswert (vgl. Gmür 2002: 67f.).

3.5.8 Die Kontrolle des eigenen Körpers

Die defizitäre Selbst-Verselbständigung, die mangelhafte Abgrenzung des Selbst vom

Umfeld bringt als Variante die zwanghafte Beschäftigung mit dem eigenen

Erscheinungsbild hervor. Diese penetrante Beschäftigung, so Gmür, entstamme einer

Intoleranz gegenüber dem Körper als autonom funktionierendem Objekt. Der Narzisst will

dem eigenen Körper also keinen Freiraum zur eigenen Entwicklung zugestehen und ihn

kontrollieren (vgl. Gmür 2002: 69).

Wenn wir schon über nichts mehr die Kontrolle haben und das ganze Weltgeschehen im

wahrsten Sinne des Wortes ausser Kontrolle ist, dann haben wir wenigstens noch ein klein

wenig Macht über unseren Körper, die es zu nutzen gilt. Cher, amerikanische

Oscargewinnerin, Trash-Ikone und Vorreiterin in Sachen Schönheitschirurgie, verkündete

schon anfangs der 80er-Jahre, dass sie mit ihrem Body all das tun könne, was sie wolle,

und wenn sie ihre "Brüste" auf dem Rücken haben wolle, dann werde sie diese genau

dorthin versetzen lassen. Dreissig Jahre entlockt die einst provozierende Bemerkung dem

gelifteten, gestählten, Botox und Collagen injizierenden Otto Normalverbraucher, der rund

um die Uhr mit den neuesten Entwicklungen eingedeckt wird, höchstens noch ein müdes,

gelangweiltes "na und?", bevor er weiter von den Hochgeschwindigkeitseindrücken des

globalen Weltdorfes überrannt wird, ohne dass er zwischen dem Trivialen und dem Welt

bewegenden, das ihn überrollt, noch zu unterscheiden vermöchte.

3.5.9 Ausblick

Ob es für diesen Menschentypus letztlich eine Zukunft gibt, und falls ja, was für eine,

überfordert unser Wissen und wäre eine Spekulation, die den Rahmen dieser Arbeit

sprengen würde. Wir können uns den Ausdruck einer gewissen Sorge und einer gewisse

Skepsis allerdings nicht verkneifen, und wollen dieses Kapitel mit dem Hinweis darauf

abschliessen, dass die Medien mithelfen, wenn nicht sogar massgeblich dafür

verantwortlich sind, wenn der Mensch die Errungenschaften der Moderne wie die

Demokratie und das Recht auf eine eigene Meinung irgendwann gar nicht mehr beurteilen

und nutzen können wird. Die Konsequenzen der seit der Dualisierung vorherrschenden

Ausrichtung auf ausschliesslich ökonomische Ziele sind nicht zu unterschätzen. Botho

Strauss, als Autor mindestens und zurecht ebenso umstritten wie die Inhalte der "Reality"-

Formate, sagt dazu: "Die Hypokrisie der öffentlichen Moral, [...] darf sich nicht wundern,

wenn die Worte in der Not kein Gewicht mehr haben werden. Aber in wessen Hand, in

wessen Mund sind die Macht und das Sagen, die Schlimmeres von uns abwenden?"

(Strauss 1999: 59f.)

"Während der Einzelne vor dem Apparat verschwindet, den er bedient, wird er von diesem

besser als je versorgt" (Horkheimer/Adorno 2003: 4). Es ist an uns, dafür zu sorgen, dass

wir vor lauter Ambivalenz und Relativismus am Ende gar nicht mehr vorhanden sind.


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